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Text. Korrektorat. Lektorat. Individuelle Kurzgeschichten.
MUSTERGESCHICHTE
Vorgegebene Begriffe: Ochse, Esel, Wunder, Schlagzeile
Stil: Liebevoll, märchenhaft
Drei Wünsche
Es war einmal vor vielen hundert Jahren in einem fernen Land. Ein alter, grauer Esel stand in einem kleinen Stall gelangweilt vor seiner Futterkrippe, während sein Freund, ein greiser Ochse, traurig von längst vergangenen Zeiten träumte.
«Jetzt wird es richtig Winter», meinte der Esel, «so kalt und ungemütlich wars um diese Zeit noch nie.» Der Ochse gab keine Antwort. Durch verschleierte Augen starrte er ein Loch in die Luft und meinte, dass früher sogar der Schnee weisser gewesen sei als heute.
«Pssst», ertönte plötzlich ein feines Stimmchen aus einer Ritze in der Wand, «ich bin Gurgelfitz, die Wunderfee.» «Was?» ächzte der Ochse, während sich der Esel vor lauter Schreck an einem Grashalm verschluckte.
«Gurgelfitz heisse ich», wiederholte die Fee und streckte ihr wunderschönes Köpfchen aus der Ritze. Die beiden Tiere starrten gebannt auf das kleine Loch in der Wand. Dem Kopf folgten zwei hauchfeine Flügel, zart wie aus Seidenfaden gewoben, ein Kleidchen aus feinstem Goldstaub und bald zwei winzig-kleine Füsschen. Mit einem Sprung hüpfte Gurgelfitz auf den Boden, wo sie mit einer ärgerlichen Geste eine Spinnwebe abschüttelte.
«Ich bin gekommen, um euch drei Wünsche zu erfüllen, denn ihr habt noch nie jemandem etwas zuleide getan.» Der Esel versuchte, den Gedanken an damals zu verdrängen, als er vor langer Zeit das Kind des Nachbarn beim Reiten abgeworfen und sich erst noch darüber gefreut hatte. «Oder fast nie» korrigierte sich Gurgelfitz.
Der Esel schüttelte wild seine langen Ohren. Das tat er immer, wenn ihm etwas Unerwartetes geschah. Und dieses Glück war unerwartet. Er sammelte sich und rief: «Liebe Gurgelfitz, unser Leben hier ist so eintönig. Tag um Tag vergeht, nichts geschieht. Ich wünschte, ich wäre wieder einmal mitten im Geschehen, würde Schlagzeilen füllen – und vielleicht sogar in die Geschichte eingehen.» Er zappelte vor Erregung, und seine Ohren zitterten.
«Dein Wunsch soll dir erfüllt sein», antwortete Gurgelfitz. Und schon polterte jemand draussen vor dem Stall herum, die Tür öffnete sich und herein traten ein Mann und eine Frau, die ein neugeborenes Kind in den Armen trug. Behutsam bettete sie den Kleinen in die alte Futterkrippe.
«Kein Platz für uns in der ganzen Stadt», murmelte der Mann zu sich selber, «ausser in diesem baufälligen Stall. Nun, immerhin besser, als draussen in der Kälte. Und wenn hier ein Esel und ein Ochse leben können, wird es für uns auch gut genug sein.» Voller Gedanken setzte er sich neben der Krippe ins Heu.
Da öffnete sich das Stalltor erneut und herein trat ein Hirte. Nein, nicht nur einer, zwei, drei. Alle Hirten der Umgebung verliessen ihre Schafe, um das neugeborene Kind zu begrüssen. Es blieb kaum noch Platz im Stall, der ganze Raum war voller Leute. «Eintrittsgeld sollte man verlangen», brummte der Ochse, «und wir könnten uns einen Palast kaufen.
Der Esel schwieg überwältigt. Er konnte nicht fassen, eine der Hauptpersonen dieser Geschichte geworden zu sein. Unterdessen hatten sogar drei richtige Könige den Stall betreten, um das Kind mit Geschenken geradezu zu überhäufen.
Der Esel war überglücklich, endlich gehörte er dazu. Und weil er ein sensibler Esel war, rief er: «Ich wünsche mir, dass man dieses Ereignis nie mehr vergisst. Die Welt soll diesen Tag feiern und sich dadurch meiner und des lieblichen Kindes dort in der Krippe erinnern!»
«Auch dieser Wunsch sei dir erfüllt», meldete sich Gurgelfitz von einem Dachbalken herunter, «jedes Jahr an diesem Tag wird ab heute gefeiert. ‘Weihnachten’ soll das Fest heissen und es soll ein Fest der Liebe sein! – Und denn du, lieber Ochse, wünschst du dir denn gar nichts?»
«Ich wünsche mir», grunzte der Ochse, «dass hier endlich wieder Ruhe einkehrt.» Und schon standen Esel und Ochse wieder alleine im schwachen Licht der Stalllaterne. Nur der in der Luft hängende Weihrauchgeruch und eine ganz kleine Veränderung im Innersten der beiden Tiere erinnerten noch an das geschehene Wunder.
Und wenn sie nicht gestorben sind, warten die beiden Tiere auch in diesem Jahr stolz auf ‘ihr’ Fest, das die Menschheit nicht zuletzt ihnen zu verdanken hat.